Excerpt

Aus und vorbei

Jakub SPEVÁK: Aus und vorbei

(Auszug aus der Erzählung Po funuse, KKB, Bratislava 2022)

 

I                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    ICH

 

Ich starb gestern oder vorgestern. So ganz genau erinnere ich mich nicht mehr. Ich kann nicht sagen, in welchem Moment ich ging. Als ob es ohne mich geschehen wäre. Dieser Moment hatte keine klaren Umrisse, er verschmolz mit der Zeit.

Dass ich tot bin, erkenne ich erst als ich meine Hand ansehe und durch sie hindurch das Haus der Familie mit dem großen Garten und der in die Jahre gekommenen Gartenlaube ganz deutlich erkennen kann. Ich werde unsicher. Ich kann mich nicht entsinnen, dass die Welt so durchscheinend gewesen wäre.

Dass ich tot bin, erschreckt mich nicht, eher verunsichert mich die Vorstellung, dass ich aus mir selbst heraus nicht mehr existieren kann, dass ich mich jeden Moment auflösen und ganz verschwinden könnte.

Ich verfalle in Panik und dringe Hals über Kopf ins Gebälk der nahegelegenen Gartenlaube ein. Dort drinnen fühle ich mich zunächst beengt, aber ich gewöhne mich daran. Offensichtlich war ich so ein Typ Mensch, anpassungsfähig. Ich strecke mich zu den hölzernen Dachbalken und seufze tief. Hier werde ich in Sicherheit sein.

Plötzlich spüre ich, wie sich kleine Holzwürmer durch mich hindurchbohren. Sie zersetzen das Holz im Gebälk, während die Gartenlaube von außen völlig intakt wirkt. Das Geräusch, das sie dabei erzeugen, ist regelmäßig und erinnert an das Ticken einer Uhr. Es beruhigt mich.

Unter dem Dach der Gartenlaube sehe ich eine Gruppe von sechs Personen an einem runden Tisch sitzen. Sie sind schwarz gekleidet, halten die Köpfe gesenkt und starren schweigend auf ihre leeren weißen Teller. Ein Platz ist frei, wahrscheinlich warten sie noch auf jemanden.

Ich versuche mich zu erinnern, ob ich sie vielleicht irgendwoher kenne, aber ich erinnere mich nicht, genauso wenig wie an die Zeit, als ich noch lebte. Trotzdem versuche ich etwas Vertrautes an ihnen zu entdecken – eine Anomalie, ein Muttermal über der Lippe, eine krumme Nase, eine fehlende Gliedmaße …

Ich entdecke nichts.

Sie könnten irgendwer sein.

Die Stille wird von einer älteren Frau unterbrochen, deren Kopf auf einen der Teller fällt. Sie ist eingeschlafen. Die anderen reagieren nicht. Nicht, weil sie es gewöhnt wären, eher weil es ihnen egal zu sein scheint. Als ob sie nichts mehr überraschen könnte. Nur der Mann, der neben ihr sitzt, scheint sich darüber zu amüsieren.

Er nimmt sein Handy heraus und beginnt sie zu filmen. Ich nehme an, es ist ihr Sohn.

In diesem Moment erhebt sich ein Junge mit lockigem Haar, der Jüngste in der Runde, und greift nach einer Flasche Schnaps. Seine Bewegungen sind recht vorhersehbar, er erinnert an einen Roboter. Den Schnaps verteilt er gleichmäßig in die Gläser.

Eine schmächtige Frau um die Dreißig bedeckt ihr Glas mit der Hand. Aber der Junge mit dem lockigen Haar widerspricht. Alle müssten gemeinsam anstoßen. Sie ist unnachgiebig, aber der Mann, der neben ihr sitzt, zieht ihre Hand vom Glas weg und schiebt sie zwischen seine Beine. Das muss ihr Mann sein.

  • Na dann, zum Wohl!

Das Klirren der Gläser lässt die schlafende Alte aufschrecken. Sie ist sofort mit von der Partie.

Die einzige Person, die ihr Glas nicht erhebt, ist eine Frau mit schwarzem Haar. Sie war mir bisher noch nicht aufgefallen. Auch sie sieht aus, als würde sie sich lieber im Gebälk irgendeiner Gartenlaube verstecken. Sie sieht die anderen an und ermahnt sie.

  • Das heißt „Ehre seinem Andenken“, ihr Esel.

Ich erstarre.

Diese Leute könnten meine Familie sein.

Die Frau zum Beispiel, die gerade die anderen zurechtgewiesen hat, könnte meine Ehefrau sein. Der zu ihrer Rechten, der mit dem lockigen Haar, könnte vom Alter her mein Sohn sein. Links meiner Ehefrau sitz wohl meine Schwiegermutter. Das ist die, die mit ihrem Kopf auf dem Teller geschlafen hat. Das neben ihr ist wahrscheinlich ihr Sohn, mein Schwager. Ein Ehepaar vervollständigt den Kreis. Ich tippe mal, dass es sich um meinen Bruder und seine Frau, meine Schwägerin, handelt.

Zuerst will ich es gar nicht glauben, aber da ich mich ein wenig einsam und aus dem Kontext gerissen fühle, bin ich bereit, jedwede Möglichkeit zu akzeptieren.

  • Einem Toten bringt Zum Wohl gar nichts mehr!

Die ganze Familie schaut die Ehefrau entsetzt an, als hätte sie ein Geheimnis verraten. Ich weiß nicht, vielleicht haben sie sich darauf geeinigt, Worte wie Tod, Beerdigung oder Leiche nicht zu erwähnen, weil sie die Stimmung ruinieren. Oder es stört sie einfach, in welchem Ton diese Worte ausgesprochen werden. Oder alle wollen sich nur betrinken und diese Worte halten sie dabei nur auf.

Die Ehefrau besinnt sich schnell auf das, was sie gesagt hat, hebt ihr Schnapsglas und trinkt es gemeinsam mit den anderen aus. Ich würde ja auch mittrinken, aber mir ist gerade nicht wirklich danach.

Wahrscheinlich spricht da die Gewohnheit aus mir.

Es ist schon ärgerlich, selbst nach dem Tod noch ein Sklave dessen zu sein, was sich gehört.

An einer Wand der Gartenlaube steht ein Foto mit einem schwarzen Trauerband. Ich sehe darauf ganz normal aus, geradezu ausdruckslos. Bei Familienfesten stand ich offensichtlich meist irgendwo am Rand und beobachtete die anderen untätig. Ich stelle mir vor, dass ich mit der Kamera in der Hand ihre Gespräche aufzeichne. Ich nehme nicht am Geschehen teil, ich beobachte.

Ich lausche der Geschichte, die mein Bruder gerade zu erzählen begonnen hat. Er hat so ein Funkeln in den Augen, ist aufgeregt, weil er etwas erzählen darf. Er ist aktiver und extrovertierter als ich. Gott weiß, ob wir uns früher verstanden haben.

Ich kombiniere, dass er über unsere Mutter spricht. Die Sanitäter haben sie vorgestern auf dem Wohnzimmerboden liegend vorgefunden. Sie war an den Schrank gelehnt und zeigte nachdrücklich Richtung Haustür. Sie schrie, dass Eindringlinge mit Schweinemasken in ihre Wohnung eingefallen seien, sie gegen den Schrank gestoßen und ihre Beine so hart mit Hämmern geschlagen hätten, dass sie danach nicht mehr aufstehen konnte. Sie war völlig zerschunden, Blut strömte aus ihren Beinen, überall Blessuren.

Mutter kommt also offensichtlich nicht. Egal. Ich bin nicht enttäuscht, weil ich sie nicht kenne. Bis jetzt war mir nicht mal in den Sinn gekommen, dass ich eine Mutter haben könnte.

Ich müsste wohl auch einen Vater haben. Vielleicht ist der überzählige Teller für ihn gedacht. Aber ich denke nicht, dass er noch lebt. Ich habe so ein seltsames Gefühl, dass alle Väter ausgestorben sind.

  • Ich habe Angst, dass ich auch so krank werden könnte wie meine Mutter. Die Ärzte sagen, es sei erblich.

Die Familienmitglieder hören dem Bruder nicht mehr zu. Wahrscheinlich gefällt ihnen nicht, dass er angefangen hat, über sich selbst zu sprechen, über seine Ängste. Nur die Schwägerin, seine Frau, nimmt immer wieder seine Hand und streicht mit den Fingerrücken über sein behaartes Handgelenk. Das macht ihn nervös. Er zieht die Hand weg, er will ihr Mitleid nicht.

  • Gott bürdet dir nur so viel auf, wie du ertragen kannst.

Die Schwiegermutter lehnt sich über den Tisch und klopft dem Bruder auf die Schulter. Sie will auch aufstehen, nimmt dabei jedoch den Plastikstuhl mit. Sie versucht sich hinzustellen, aber die Haut der Schwiegermutter klebt so fest am Plastik, dass sie am Tisch sitzen bleiben muss. Nach zwei gescheiterten Versuchen blickt sie endlich ihre Verwandten an, die auf sie einreden, sie solle ausatmen und dabei den Bauch einziehen.

Keiner hilft ihr. Schließlich stößt sie den Stuhl zu Boden, während ihr Körper sich genau in die entgegengesetzte Richtung befreit. Sie richtet ihr zerknittertes Kostüm und verlässt wortlos die Gartenlaube. Auf dem Plastikstuhl bleibt eine Schweißpfütze zurück.

Ich würde ihr nachgehen oder mich ein wenig umsehen, aber ich fühle mich dazu verpflichtet, in der Gartenlaube zu bleiben, wenn sie mir zu Ehren schon ein solches Mahl zubereitet haben.

Als die Schwiegermutter in der Tür verschwindet, lehnt sich der Schwager über den Tisch und flüstert den anderen zu, dass er in ihrem Mondkalender gelesen hat. Er ist schockiert, dass sie darin peinlich genau notiert hat, wie ihr Stuhlgang ist, ihr täglicher Schlafrhythmus, wie viele Kalorien sie zu sich nimmt, wie viele Liter Wasser sie trink, mit wem sie spricht und was sie wo einkauft. All das schreibt sie in einer Miniaturschrift auf, die kaum lesbar ist.

Die Ehefrau hingegen beobachtet seit kurzem ihre Mutter, wie die ihre Hand bis zum Ellenbogen in riesige Löcher im Boden steckt. Die Löcher sind durch die große Dürre entstanden, denn es hat seit zwei Monaten nicht mehr geregnet. Ihre Mutter meint, das sei ein Zeichen für das nahende Ende der Welt. Die Ehefrau macht sich Sorgen, dass sie die Mutter von einem Tag auf den anderen in ein Pflegeheim werden stecken müssen.

Mir fällt auf, dass sie nicht über sich selbst sprechen, sondern über die, die gerade nicht da sind. Es ist gut möglich, dass sie nur so viel über sich selbst wissen, wie ich über sie weiß.

Einige Zeit später erscheint in der Haustür die Schwiegermutter mit einem Topf Suppe, der so riesig ist wie ihr Bauch. Sie wackelt einen Fuß vor den anderen setzend durch den Garten. Ich vermute, dass die Knorpel abgenutzt sind und ihre Knochen aneinanderreiben. Sie muss starke Schmerzen haben, aber sie sagt nichts.

Sie knallt den Topf schwungvoll auf den Tisch, damit auch niemandem entgeht, dass sie wieder da ist, und verteilt mit herausgestreckter Zunge, Zeichen ihrer höchsten Konzentration, die Tomaten-Buchstaben-Suppe. Sie betrachtet mein Bild.

  • Sein Lieblingsessen.

Die Ehefrau reißt ihr den Teller aus der Hand und rollt verärgert mit den Augen.

  • Erzähl keinen Unsinn! Das ist dein Lieblingsessen.

Die Suppe ist heiß. Sie löffeln die Suppe vom Rand her und pusten, damit sie sich ihre Zungen nicht verbrennen. Die Schwiegermutter fragt die anderen ununterbrochen, ob es ihnen auch schmecke, ob die Suppe salzig genug sei, ob sie ihnen noch auftun könne, als die Ehefrau plötzlich aus der Gartenlaube stürmt und sich in die nächstgelegenen Buchsbäume im Garten erbricht. Sie schaut entschuldigend in Richtung der anderen, aber die beachten sie gar nicht und löffeln schlürfend weiter.

Die Ehefrau schämt sich. Sie wirkt, als wäre sie plötzlich nackt und wüsste zwar genau, wo sich ihre Beine, Arme, ihr Kopf, ihr Becken, ihr Hals und ihre Brüste befinden, doch als wäre sie über der Anordnung ihrer Organe verunsichert, irgendwie unzufrieden. Am liebsten würde sie sich von Grund auf verändern.

Still schleicht sie in Richtung Haus. Es kommt mir vor, als riefe sie auch mich. Ich zögere einen Moment, trete aber schließlich aus der Gartenlaube hervor und folge ihr.

Ich entdecke sie im Badezimmer, wo sie vornübergebeugt vor der Toilettenschüssel kniet. Ich würde gerne in ihren Körper hineinfahren, aber ich vermag es nicht.

Ihre Haut ist so hart wie Asphalt.

 

II                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    DIE EHEfrau

Im Krankenhaus zahlte ich für ein exklusiveres Zimmer, in dem er allein sein konnte. Er hatte einen Fernseher nur für sich, ein eigenes Klo mit Dusche, eine schönere Aussicht aus dem Fenster. Auch die Schwestern kümmerten sich ein wenig mehr um ihn. Ich brachte ihnen regelmäßig Pralinenschachteln vorbei, oder eine Flasche Fernet Stock, und hoffte, dass ich ihn noch lebend in seinem Bett vorfinden würde.

Auf der Krankenhaustoilette, die nach Verwesung und Pisse roch, puderte ich mich frisch, warf ein paar Beruhigungspillen ein und mir den Ausdruck einer verständnisvollen Ehefrau über.

Er schlief immer, wenn ich das Zimmer betrat. Er sah aus, als hätte sich jemand seinen Körper angezogen, hätte ihn getragen wie einen Raumanzug und dann auf dem sterilen Bett abgelegt. Es brauchte immer einen Moment der Überwindung, bevor ich ihn aufwecken konnte. Ich wollte weglaufen, ihn einfach da liegen lassen. Ich konnte ihn nicht ansehen, ich sah mich selbst in ihm.

Vielleicht hielt er die Augen mit Absicht geschlossen und hoffte, dass ich sein indirektes Zeichen verstehen würde. Geh weg! Ich will nicht, dass du mich so siehst. Vielleicht dachte er, dass wir uns nach so vielen Ehejahren auch auf dieser Ebene verstehen würden. Ich blieb, so war ich erzogen.

Als er nach der ersten Operation aufwachte und mich desorientiert anlächelte, erkannte ich ihn nicht wieder. Das war nicht mein Mann. Ich wollte ihn zurückgeben, reklamieren. Stattdessen setzte ich ein falsches Lächeln auf. Doch er machte nicht den Eindruck, dass er es nötig hatte, sich zu verstellen.

Er erinnerte sich verschwommen daran, wie sie ihn während der Operation aufgeweckt hatten, um sicherzustellen, dass sie nicht versehentlich einen wichtigen Nerv in seinem Gehirn beschädigten. Er erzählte mir davon mit der gleichen Leidenschaft, mit der er sonst über ein Fußballspiel oder über Politik zu sprechen pflegte.

Ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, was er durchgemacht haben musste. Halb wach mit geöffnetem Schädel im OP. Mir wurde schlecht, doch er sprach weiter, als hätte er sich bloß das Knie aufgeschlagen. Es ging mir auf die Nerven, dass ich diese ganze Krebsgeschichte mehr durchlitt als er.

Als die Wirkung der Narkosemittel nachließ, bekam er schreckliche Kopfschmerzen und konnte nicht einmal mehr laufen. Bei jedem Schritt spürte er, wie sein Gehirn gegen die Innenseite seines Schädels stieß. Und so verbrachten wir die Besuchszeiten in seinem luxuriösen Zimmer meist schweigend.

Ich streichelte seinen blassen, dünnen Arm und betrachtete die Operationsnarbe. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment aufreißen, der Inhalt seines Gehirns auslaufen und sich im ganzen Zimmer verteilen. Ich stellte mir vor, wie ich hinterher alles aufräumen müsste, damit die Ärzte nichts merkten.

Wir hatten uns nichts zu sagen. Alles war unbedeutend, nebensächlich. Nur der Tumor verband uns noch. Würde er bösartig sein oder nicht? Wann würde der Arzt es uns endlich sagen? Wann würde die Histologie fertig sein? Jeden Tag das gleiche. So stellte ich mir die Hölle vor. Ein endloses Warten. Dieser Zustand ohne endgültiges Urteil darüber, ob es sich gelohnt hat oder nicht.

Eines Tages hatte ich ein "Mensch, ärgere dich nicht" mitgebracht. Er legte fest, dass er grün und ich rot sein würde, aber er gab mir eine blaue Figur und sich selbst eine gelbe. Es war mir egal. Ich tat überzeugend so, als sei die blaue Figur rot und die gelbe grün. Ich redete mir ein, dass das von den Medikamenten kommen müsse, irgendein postoperatives Syndrom. Als ob es eine Rolle spielte, welche Farbe die Spielfiguren hatten!

Ich ließ ihn gewinnen. Wenn ich ihn rauswerfen musste, habe ich lieber mit einer anderen Figur gezogen. Früher hätte ich ihn rausgeschmissen, denn ich bin eigentlich ein Wettkampftyp, aber ich wollte ihm eine Freude machen. Genauso haben wir unseren Sohn auch beschwindelt, als er noch kleiner war und jedes Mal ausgeflippt ist, wenn er verloren hatte. Er warf sich auf den Boden, krümmte sich in Wutanfällen und brüllte: Warum immer ich? Warum immer ich?

Als ich später aus dem Krankenhauszimmer heraustrat, konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass trotz meiner Bemühungen vom Kopfkissen gedämpfte Schreie aus dem Zimmer zu hören waren. Ich wollte zurückgehen und ihm versichern, dass alles in Ordnung sei, dass nichts passiert sei, doch stattdessen ging ich zum Fahrstuhl.

Bis heute mache ich mir Vorwürfe, dass ich ihn nicht rausgeschmissen habe, sondern schummelte und ihn belogt. Dass ich von dem Tag an begann, mich ihm gegenüber anders zu verhalten. Dann kamen die Ergebnisse. Der Tumor war bösartig. Im dritten Stadium. Er durfte nicht mehr Auto fahren, weil er allmählich sein Augenlicht verlor. Er konnte auch nicht mehr zur Arbeit gehen. Eine zu große Belastung im Job konnte zum Zusammenbruch seines Organismus führen. Er zog sich in das Innere unseres Hauses zurück und begann ganz allmählich mit den Dingen zu verwachsen, die sich darin befanden. Er wurde immer unsichtbarer.

Wenn ich von der Arbeit kam, überraschte es mich immer, dass außer meiner Mutter noch jemand zuhause war. Zuerst dachte ich, dass sich jemand in unser Haus geschlichen hätte, während meine Mutter ihren Nachmittagsschlaf hielt. Teilweise war ich erleichtert, als mir klar wurde, dass er es war, doch dann überkam mich immer so ein beklemmendes Gefühl, dass er noch unter den Lebenden weilte. Ich wäre schon längst tot gewesen.

Einmal täglich saugte er das Haus, sortierte die Einmachgläser in der Speisekammer oder räumte die Bibliothek um - die eine Woche nach Autoren, die andere wieder nach Genres. Als die Chemotherapie richtig begonnen hatte, konnte er nicht einmal mehr das. Entweder sah er fern oder er schlief. Er wurde eins mit dem Sessel. Die Hände wie mit den Armlehnen zusammengewachsen, die Augen wie Knöpfe.

Nach einer gewissen Zeit erlitt er erneut einen epileptischen Anfall. Der Tumor wuchs beständig weiter. Die Ärzte entschieden, ihn noch ein weiteres Mal zu operieren. Es war riskanter, weil man einen Kopf nicht jedes halbe Jahr öffnen konnte, doch er war erst knapp über Vierzig und bei guter körperlicher Verfassung. Deshalb gingen sie das Risiko bei ihm ein. Es gelang ihnen zwar, den Tumor zu verkleinern, doch war der so aggressiv und tief verwurzelt, dass er auch nach der Operation weiter auf wichtige Areale des Gehirns drückte. Die motorischen Fähigkeiten begannen zu schwinden, auch das Sprachvermögen.

Ich konnte die Wärme seiner Haut nicht mehr spüren.

Als ich eines Tages in sein Krankenzimmer kam, lag er auf dem Bett und lächelte in die Sonne. Die Konturen seines Körpers waren genau definiert; dieses Mal verschmolz er nicht mit seiner Umgebung, wurde nicht vom Laken, dem Kissen und der Bettdecke absorbiert. Auf einmal war er präsent und deutlich greifbar, real. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe. Er schaute mich an, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte. Ich musste lächeln, aber es kam kein Gespräch in Gang. Er sah mir nur dabei zu, wie ich Rote-Beete-Saft und Äpfel, Nüsse und anderen gesunden Quatsch aus meiner Tasche holte. Ich glaubte nicht wirklich daran, dass es ihm helfen würde, doch ich kaufte es, damit ich mich, wenn alles vorbei war, nicht schlecht fühlte, weil ich vielleicht nicht genug für ihn getan hatte.

Mir fiel ein Apfel herunter. Ich bückte mich und begann den Apfel zu suchen. Als ich unter dem Bett wieder hervorkroch, war er nackt. Das überraschte mich nicht. Ich legte den Apfel auf den Nachttisch, setzte mich auf den Stuhl, zog meinen Rock hoch und den Slip aus. Einen Moment lang betrachtete er meinen entblößten Schritt. Sein Glied wurde langsam steif. Ich ging zu ihm hinüber und steckt ihm den Apfel in den Mund. Er biss von der einen Seite hinein, ich von der anderen. Dann knöpfte ich mir die Bluse auf und begoss mich mit dem Rote-Beete-Saft. Ich kletterte auf das Bett, kroch unter die Decke. Wir kuschelten uns hinein, bis nichts mehr von uns zu sehen war. Auf der Decke blieben nur die rosa Flecken der Roten Beete.

Den Apfel aßen wir ganz auf. Samt Stiel und Gehäuse.

Als er sich befriedigt hatte, zog ich mich an und ging ohne ein Wort.

Auf dem Klo sah ich in den Spiegel. Ich fühlte mich benutzt, schmutzig. Ich wusch mir die Achseln und die Genitalien mit Wasser aus dem Hahn. Mein Spiegelbild wirkte seltsam, irgendetwas stimmte nicht. Ich befühlte mein ganzes Gesicht, bis ich hinter dem Ohr auf ein unscheinbares Stück Faden stieß. Vorsichtig begann ich daran zu ziehen, es von meinem Kopf abzuziehen. Der Faden war mehrere Zentimeter lang. Ich wusste nicht, wie er dahingekommen war. Ich wurde nervös.

Hinter dem Ohr fühlte ich etwas Warmes. Ich wischte mit dem Zeigefinger hin und leckte ihn ab. Es war Blut. Ich geriet in Panik. Ich hörte augenblicklich auf, an dem Faden zu ziehen und betrachtete meinen Kopf von der Seite. Die Haut an der Stelle passte nicht mehr zu ihrer Umgebung, sie war aufgeplatzt. Ich bohrte meine Finger in die offene Stelle und pulte eine dünne Schicht ab. Es ging sehr leicht, wie das Schälen einer reifen Orange.

Ich zog mir die Haut ab. Es war angenehm.

Ich dachte, dass unter meiner Haut seine sein würde, das wäre schön und romantisch gewesen. Oder aber es wäre eine Muskelgruppe zum Vorschein gekommen, wie im Biologiebuch.

Aber nein, ich selbst war wieder darunter. Genau dieselbe.

Das war für mich eine ziemlich große Enttäuschung.

 

 

III                                                                                                                                                                                         ich

Tomatiges Erbrochenes klatscht auf die Wasseroberfläche und die Buchstaben aus der Suppe gruppieren sich nach und nach zu zufälligen, sinnlosen Kombinationen. Die benommene Ehefrau betrachtet sie, als ob sie in ihnen eine Offenbarung entdecken könnte. Die tiefe Falte auf ihrer Stirn verrät mir, wie sehr sie die Bedeutung der Buchstaben zu entschlüsseln versucht. Es wäre ihr am liebsten, sie würden sinnvolle Wörter bilden, Sätze, ganze Geschichten. Solche, die sie noch nie gehört hat. Solche, die ihr sagen würden, wie es nun mit ihrem Leben weitergehen soll.

                Ich will ihr helfen, aber ich weiß nicht, welche Geschichte sie verdient.

                Die Ehefrau erhebt sich vom kalten Boden und spült das Buchstabenorakel gründlich weg.

Sie stützt sich auf das Waschbecken und wischt mit dem Handrücken ein O ab, das noch in ihrem Mundwinkel klebte. Dann hält sie den Kopf unter den kalten Wasserstrahl. Ich stelle mir vor, wie ihr das Wasser zwischen die Haaransätze rinnt, in den Kopf eindringt, die schmutzigen Gedanken wegschwämmt und dann ganz schwarz im Waschbecken versickert.

Jemand klopft an die Tür, aber die Ehefrau rührt sich nicht. Durch die dünnen Wände höre ich ein Flüstern, das wie ein Gebet klingt.

Wenn dann aber das Ganze kommt, wird alles Unfertige vergehen. Als ich ein Kind war, sprach ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich das Kindliche ab.

Der Sohn klopft diesmal energischer. Nichts, keine Reaktion. Er entscheidet sich einzutreten, doch das Bad scheint ihm zunächst leer. Erst als er auf den Boden schaut, erblickt er seine Mutter, wie sie dasitzt mit dem Handtuch auf dem Kopf, die Handflächen vor den Mund gepresst, als ob sie sich ersticken wollte, und weint.

Er versucht sie aufzurichten, doch er schafft es nicht. Er ist nicht besonders gut gebaut, sein Körper ist schwach. Ich bin sicher, dass er seit meinem Tod dünnen Stuhlgang hat. Er kann die Nahrung nicht ordentlich verdauen, sie rutscht nur so durch ihn hindurch. Davon brennt ihm der Hintern. Mit angezündeter Zigarette nachts auf dem Balkon leuchtet er wie ein Glühwürmchen.

Beim nächsten Versuch sie aufzuheben, zieht ihn die Ehefrau zu Boden. Sie weint nicht mehr in ihre Hände, sondern beruhigt ihren Kummer an der Brust des Sohnes.

Wir werden zusammen noch nach Bulgarien fahren, nach Sofia, in dieses Delphinarium, zu den alten Denkmälern, eine Bootsfahrt machen. Ich werde ihn noch in mir spüren. Wir werden ans Meer ziehen und jeden Morgen schwimmen gehen. Auch im Winter. Wir werden so tun, als sei das normal. Das kalte Wasser schneidet in unsere Körper. Das Blut wärmt uns.

Ich will das nicht hören. Ich fühle mich dann verantwortlich für ihre Trauer. Ich würde mich gerne bei ihr entschuldigen, aber ich kann nichts dafür, dass ich gestorben bin. Ich muss mir nur immer wieder wiederholen, dass es mich nicht betrifft. Es betrifft nur sie alle, nicht mich.

Je länger sich Sohn und Ehefrau umschlungen halten, umso mehr scheint es mir, dass er aufhört, ihr Sohn zu sein und sie seine Mutter. Sie entfernen sich voneinander. Schließlich werden sie sich von einer so großen Entfernung aus ansehen, dass nur zwei kleine Punkte von ihnen bleiben, die nichts mehr gemeinsam haben.

  • Komm, Mama, wir sollten zu den anderen zurückgehen.

Sie sieht ihm in die Augen, er erkennt ihre nicht. Die schwarze Farbe der Wimperntusche ist in das Weiß gesickert und sie sieht jetzt aus wie eine Außerirdische. Der Sohn erschrickt. Ich kann mir vorstellen, wie sehr er vor ähnlichen Ungeheuern Angst gehabt haben muss, als er noch klein war. Bestimmt haben sie ihn an den nackten Füßen gepackt, die unter der Bettdecke hervorlugten, und auf ihrem Raumschiff mit ihm Experimente durchgeführt. Sie haben an seinen Gliedmaßen gezogen und ihn angeschrien, dass er endlich wachsen solle. Jeden Morgen ist er mit einem Fleck in der Pyjamahose zur Messlatte gegangen und hat nachgesehen, ob er endlich etwas größer geworden war.

Schnell zieht er der Mutter das Handtuch vom Kopf, taucht es ins Wasser und wischt ihr die Augen ab, bis sie wieder ihre ursprüngliche Farbe annehmen. Dann richtet er sich auf und versucht erneut, sie hochzuheben, aber die Ehefrau bleibt sitzen, als ob ihre Tränen sie an die Wand geklebt hätten.

Der Sohn resigniert und legt sich in die Badewanne. Die kalte Keramik kühlt ihm die Haut. Er schließt die Augen. Er sieht aus wie eine Leiche in einer Kühltruhe. Sah ich auch so aus? Der Sarg, die Beerdigung, der Pfarrer. Herzliches Beileid. Sie lassen mich hinunter. Tiefer und tiefer in die Erde. Mit dem Verstorbenen sollte man die gesamte Familie beerdigen.

Dann nimmt der Sohn den Duschschlauch und spült sich mit kaltem Wasser das Gesicht ab. Er richtet ihn auch auf seine Mutter und wäscht ihr die letzten schwarzen Schlieren weg. Die Ehefrau steht auf und sieht dem Sohn in die Augen. Vielleicht ähnelt er mir.

Sie verpasst ihm eine Ohrfeige.

Einen Moment lang sehen sie sich an. Dann gibt er ihr eine Ohrfeige. Die Ehefrau kneift die Augen zusammen und nickt. Der Sohn wiederholt seinen Schlag.

Nochmal.

Nochmal.

Die Ehefrau gebietet ihm Einhalt und beginnt nun selbst ihn zu ohrfeigen.

Ich kann mir das nicht länger ansehen. Ich verlasse das Badezimmer, durchquere den Garten und verkrieche mich wieder in der Gartenlaube. Der Bruder macht die kotzende Ehefrau nach, Schwägerin und Schwager klatschen Beifall und die Schwiegermutter wischt sich mit der Serviette Suppenspritzer von der Bluse.

Meine Gedanken sind jedoch immer noch im Badezimmer.

Ich kann mir nicht helfen, doch irgendwie hatte ihre Ohrfeigerei etwas Zärtliches.

Etwas wie ein Streicheln.

 

 

 

© Übersetzung aus dem Slowakischen: Stefanie Bose, 2023

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