Excerpt

Die Wiedergeburt der Orthodoxie in unserer Stadt

Daniel MAJLING: Die Wiedergeburt der Orthodoxie in unserer Stadt

(Kurzgeschichte Znovuzrodenie pravoslávia v našom meste aus dem Sammlung Ruzká Klazika, Brak, Bratislava 2017)

 

 

Als zum Ende des Sommers in Balsezowo ein Bus mit Siebenklässlern unserer Oberschule gegen einen Betonmast krachte und sechs der zweiundzwanzig Schüler gleich vor Ort sowie weitere sieben im Laufe der folgenden Tage im Krankenhaus starben, stand unser Städtchen unter Schock. Balsezowo ist eine kleine Stadt und es gab hier kein einziges Haus, in dem nicht die Tränen flossen - um den Sohn oder die Tochter, einen Neffen oder eine Nichte, einen Cousin oder eine Cousine, einen Nachbarsjungen oder ein Nachbarsmädchen. Zur großen Beerdigung der Schüler kam die ganze Stadt und auch die Bewohner aller Nachbardörfer waren dabei. Bereits ab dem Morgen füllte sich die Kirche der Allerheiligsten Gottesmutter mit Särgen. Vor der Kirche stellte Peťka Rapawý sein Tischchen mit den Kürbiskernen zum Verkauf auf - bis ihn Samson Samsonow, der Gemeindevorstand, fortjagte. Vorn in der Kirche, vor der Ikonostase, standen dreizehn weiße Särge und davor dreizehn Mütter, die von Verwandten gestützt werden mussten, damit sie nicht ganz zusammenbrachen.

Die völlig von Verzweiflung erschütterte Stadt wartete, was der ehrwürdige Erzvater[1] Ferapont sagen würde und mit welchen Worten es ihm gelingen könnte, die Verzweiflung zu lindern, die unsere Herzen zerriss. Tausende Blicke waren auf den Priester geheftet, der in Begleitung seines Diakons Miťka die Kirche betrat.

Vater Ferapont segnete die Menge und sprach in seinem tiefen, sanften Bass: „Heute, da wir vor diesen dreizehn Särgen stehen, hat jeder von uns nur die eine Frage im Sinn: Warum? Diese Frage Warum? hallt schon seit Beginn des Menschengeschlechts durch das Weltall. Warum ist das passiert? Warum mussten diese dreizehn unschuldigen Kinder sterben, noch bevor sie das Leben richtig schmecken konnten? Warum verdarb die Blüte ihres Lebens bereits, bevor sie knospen, aufblühen und Früchte tragen konnte? Warum? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort …“ Vater Ferapont schwieg einen Moment und die ganze Versammlung wurde still und spitzte die Ohren. „Gott brauchte dreizehn kleine Engel im Himmel! Deshalb ließ er den Bus gegen den Betonmast fahren, deshalb ließ er ihn brennen, ließ einige der Kinder am Rauch ersticken und andere lebendig verbrennen. Warum hat er sie nicht auf eine weniger brutale Art zu sich gerufen? mag ein Zweifler oder Ungläubiger fragen. Einzig aus dem Grund, so antwortet das gläubige Herz, um uns anhand dieser Kinder die höllischen Schrecken der Ungläubigen zu lehren und zu zeigen, wie diese ebenso im Feuer enden werden.“

Falls es Vater Ferapont darum ging, die Hinterbliebenen wenigstens für einen Moment ihr Leid vergessen zu lassen, ist hier objektiv einzuräumen, dass ihm das für den Augenblick tatsächlich gelungen war. Bei den meisten jedoch kochten dann die Gefühle auf. Zunächst breitete sich Verlegenheit aus, dann Verwunderung und schließlich Wut. Die Zuhörer folgten Vater Feraponts Rede unter Schock und nicht wenige mit offenem Mund. Sogar das verzweifelte Jammern der Mütter verstummte. Und Vater Ferapont war noch nicht einmal fertig mit seiner Rede. Er begann laut darüber nachzusinnen, welchen Typ Engel Gott vielleicht brauchte, da er gerade diese Kinder zu sich gerufen hatte. Saschka Belabanow konnte so schön singen, vielleicht fehlten im himmlischen Chor Tenöre und es war deshalb notwendig, Saschka umzubringen und auf schnellstem Wege in den Himmel zu schicken, theoretisierte Vater Ferapont. Und der hier liegende Peťka Rasumitchin wiederum hatte es bei den Kreismeisterschaften im Waldlauf auf den zweiten Platz geschafft, im Himmel fehlten wohl schnellbeinige Boten. Und da Peťka nicht nur schnell lief, sondern auch in Mathematik eine Bronzemedaille erhascht hatte, brauchte man vielleicht einen Boten, der die Rechenkünste der neu angekommenen Erlösten schnell vom Heiligen Jakob an den Heiligen Paulus übermitteln konnte.

Nach der Beerdigung wurde noch lange über die Predigt von Vater Ferapont geredet. Und zwar nicht im Guten. Der Lehrer Koslow brachte es auf den Punkt, Vater Ferapont sei ein Arschloch.

Wolodja Bespiatnikow, Vater der auch beim Unfall gestorbenen kleinen Lisaweta, kam zu dem Schluss, dass es Gott gar nicht gibt. Und er wird nicht mehr in die Kirche gehen. Einige weitere Bewohner von Balsezowo waren auch dieser Meinung. Nach dieser Predigt schrumpfte der Gottesdienstbesuch rapid. Vater Ferapont schrieb es dem Wirken des Teufels in Balsezowo zu.

Zwei Monate später wurde Balsezowo von einem weiteren Unglück eingeholt. Bergleute im Schacht in Weißpolen stießen auf eine Methankapsel. Die fing Feuer und explodierte.

Vor Ort verbrannten sieben Bergleute lebendigen Leibes, unter ihnen auch Wolodja Bespiatnikow, der beim Autobusunfall seine Tochter verloren und dann gesagt hatte, dass es Gott nicht gibt. Nur drei Bergmänner wurden auf den Wunsch ihrer Familien von Vater Ferapont begraben und die Teilnahme an der Beerdigung war nicht groß.

Vater Ferapont predigte mit mächtiger Stimme: „Diese sieben Leute hat Gott für ihren menschlichen Stolz bestraft. Hat Gott denn den Menschen wie einen Maulwurf mit Pfoten geschaffen? Nein! Trotzdem kommt der Mensch Gott gegenüber mit seiner Versuchung und scharrt sich wie ein Maulwurf in die Erde, fliegt wie ein Vogel und taucht wie ein Fisch. Doch Gott bestraft eben die Menschen für ihren Stolz, wie er diese sieben Heiden verflucht hat, die sich für Maulwürfe hielten.“

Wenn man Vater Feraponts Predigt zum ersten Begräbnis schon nicht als Erfolg einstufen konnte, so war diese zweite ein komplettes Fiasko. In der Nacht schlug ihm sogar jemand mit einem Stein ein Fenster ein und vergiftete seine Hündin Aglaja. „Der Teufel hat sich gegen uns verschworen, doch wir müssen ausharren“, sagte Vater Ferapont am Abend zu seinem Diakon Miťka, als sie das zerschlagene Fenster gemeinsam wieder verglasten. Vater Ferapont war von jener Überzeugung besessen, welche die meisten Künstler plagt und die da lautet: je mehr Menschen man verärgert, umso gewisser ist man auf dem rechten Weg.

Die letzte Katastrophe traf unser Städtchen Ende August. Eines Tages erblickte der Landstreicher Artjom Skotschdopolja-Praschiwy die liebe Nina, den Sonnenschein unserer Stadt, eine Schönheit ohne ihresgleichen. Sie begleitete gerade ihre Oma, die alte Anfisa, aus der Kirche nach Hause. Nicht nur einer der jungen Burschen in Balsezowo träumte vor dem Einschlafen von Nina. Schon zwei Mal waren Leute aus Moskau bei ihr gewesen, sie sollte mit in die große Stadt kommen und Kleider präsentieren. Das Blaue vom Himmel hatten sie ihr versprochen, Paris und Mailand hatten sie ihr beschworen. Doch Ninas Herz sehnte sich weder nach Ruhm noch nach Bewunderung. Ihr ging es gut in unserem Balsezowo mit ihrer Oma Anfisa. Sie hatte Kinder gern und arbeitete als Erzieherin im Kindergarten. Die Freude war ihr anzusehen, wenn sie auf der Wiese mit den Kindern vom Frieden und von der Heimat sang. Als Artjom Skotschdopolja-Praschiwy sie im Licht der untergehenden Sonne erblickte, sehnte sich das einsame Herz des Artjom nach ihr. Artjom war Waise, ein Landstreicher, und er hatte noch nie gefickt.

Er wartete auf Nina, als sie am nächsten Tag in der Dämmerung von der Probe des Singkreises kam und zerrte sie vom Weg hinunter in die Senke zwischen den Weiden beim Bach. Dort packte er sie an den Haaren und drückte ihren Kopf ins Wasser. Vergeblich wehrte sich Nina. Artjom hielt ihren Kopf unter Wasser, bis sie aufhörte um sich zu schlagen und ihr Körper reglos war. Er zog sie aus dem Wasser, schob ihren nassen Rock hoch und zog seinen stinkenden, lange nicht gewaschenen Penis aus der Hose. Er schob Ninas Slip weg, drang nur zweimal in die weiße Nina ein und alles war vorüber. Der Landstreicher Artjom wälzte sich neben die starre Nina und prustete laut. In den Weiden sangen die Vögel, ein leichter Wind wehte, das Wasser glitzerte. Artjom überlegte, ob das alles diesen Augenblick der Erregung wert war. War es nicht. Artjom fühlte sich betrogen, er war wütend auf Nina, dass sie ihn wegen der paar Sekunden in solchen Schlamassel gebracht hatte. Er fuchtelte böse mit der Hand über ihr herum. Da bewegte sich Nina. Artjom erschrak. Durch Ninas Körper zuckte ein Krampf, sie kam zu sich und spuckte schmutziges Wasser aus. Er hörte, wie sie röchelnd atmete. Artjom war schon einmal im Gefängnis gewesen, als er im Laden amerikanische Schuhe geklaut hatte. Jeden Tag hatten sie ihm - wie das dort üblich war – mit einem Küchenmesser die Haut geritzt und Salz in die Wunden gestreut. Und jeden zweiten Tag hatte ihm bei den Duschen der Bulle Genja seinen riesigen Kolben in den Hintern gesteckt, dass ihm das Blut aus dem Arsch tropfte. Er wollte nicht wieder in den Knast. Deshalb stand er auf, ging zum Bach und fand dort einen großen runden Stein. Nina beobachtete ihn und zitterte. Sie wollte weglaufen, doch ihre Beine gehorchten nicht. Artjom holte aus, traf sie aber nicht. Nina bettelte, er solle sie nicht erschlagen, sie werde niemandem etwas sagen Doch Artjom wusste, dass Frauen immer nur Zeugs versprechen. Denen konnte man nicht glauben. Der zweite Schlag ging nicht daneben, er traf Nina über dem Auge. Sicherheitshalber schlug Artjom noch einmal zu und noch einmal … und noch einmal … und noch einmal … bis er sicher war, dass Nina nie mehr jemandem etwas erzählen wird. Und weil er wusste, dass er wohl nie mehr die Gelegenheit haben werde, mit solch einer Schönheit zusammenzukommen, bediente er sich ihres Körpers noch einmal. Diese Mal dauerte es länger an. Und das war fatal für ihn, denn Grigorij Stalagubow, ein Kraftprotz, ein Riese, der zum Flüsschen gekommen war, um Fische zu fangen, ertappte ihn.

Sie nahmen Artjom fest und noch in der Vernehmungszelle gab er alles zu. Er weinte und kam mit der Ausrede, der Teufel habe ihn besessen. Zur großen Überraschung der ganzen Stadt beschloss Ninas Oma Anfisa, Ninas entwürdigten Körper von Vater Ferapont kirchlich beerdigen zu lassen. Man redete auf sie ein, sie sollte auf Gott pfeifen, der ihrer Nina, Anfisas Sonnenschein, solch grausamen Tod zugebilligt hatte. Anfisa war nicht abzubringen. Zu Vater Ferapont hatte jeder seine eigene Meinung, aber Nina mochten sie alle. So bereitete sich letztendlich die ganze Stadt auf ihre Beerdigung vor.

Am Vorabend der Beerdigung stand Vater Ferapont am Herd und kochte sich dort aus frischer kasanischer Rjubaschka und Ostschinka seinen geliebten Karmakas[2]. Neben ihm saß Diakon Miťka und hörte Vater Ferapont zu. „Und weißt du, worüber ich morgen predigen werde?“, fragte Vater Ferapont ihn plötzlich. Miťka wusste, dass Vater Ferapont von ihm keine Antwort erwartete, somit saß er nur still da. „Weißt du, was ich zum Begräbnis der ermordeten Nina Wasiliewna sagen werde? Ich werde über die Sünde der Schönheit predigen, von der Nina Wasiliewna erfüllt war. Ich werde darüber predigen, dass auch sie, obwohl sie heilig war, der Versuchung und Eitelkeit ihrer Schönheit unterlag und Gott sie deshalb bestrafen und den Teufel in ihr umbringen musste. Wenn sie ihre Schönheit nicht so sehr zur Schau gestellt hätte, könnte sie noch am Leben sein. Wie oft hat sie auch mich, obwohl ich heilig bin und meinen ganzen Tag im Gebet verbringe, mit ihrer Schönheit erregt und in Versuchung gebracht, dieses Teufelsweib. Sie hat versucht, mich von den Gebeten abzulenken und zur Sünde gegenüber dem Zölibat zu verführen. Wie oft kam auch bei mir, obwohl ich eine heilige Person bin, beim Anblick Nina Wasiliewnas ein schmutziger Gedanke auf. Jeder junge Mann sollte in der Kirche eine Kerze anzünden, als Dank, dass Gott ihnen diese Versuchung nun genommen hat. Der Artjom, Miťka, das ist ein Gottesbote. Darüber werde ich morgen bei der Beerdigung predigen, lieber Miťka.“

Diakon Miťka hörte Vater Ferapont zu. Er hörte zu, und obwohl Miťka kein Denker war, spürte er, dass diese Beerdigungsrede von Vater Ferapont wohl das Ende der Orthodoxie in Balsezowo bedeuten würde. Die Leute würden Vater Ferapont sicher noch während seiner Rede attackieren, den Diakon auch, sie würden auf ihn einschlagen, bis er tot war, sie würden die Ikonostase herunterreißen und auf den heiligen Ikonen herumtrampeln, die Gottesmutter bespucken und die Ikonen des Erlösers verbrennen.

Diakon Miťka konnte das einfach nicht zulassen. Als Vater Ferapont so mit dem Rücken zu ihm am Herd stand, seinen Karmakas köchelte und vom Teufel erzählte, der sich das Gesicht der unschuldigen Nina übergezogen hatte, nahm Diakon Miťka das Küchenmesser vom Tisch und stach Vater Ferapont in die Nieren.

Vater Ferapont verstummte endlich, drehte sich um und blickte den Diakon überrascht an. Der Diakon schnitt Vater Ferapont mit einem schnellen Zug die Kehle durch. An Vater Feraponts Hals erschien ein zweiter Mund. Dieser Mund öffnete sich, als ob Vater Ferapont damit etwas sagen wollte, doch statt der Stimme sprudelte nur Blut heraus. Vater Ferapont brach zu Boden und aus dem Hals strömte das Blut bis auf des Diakons Füße. Auf dem Herd begann der Karkamas überzukochen, der Brei quoll über den Topfrand und tropfte auf den Boden in die Blutlache. Doch der Diakon stand davon ungerührt beim leblosen Vater Ferapont und überlegte nun, ob dieses Opfer den Untergang der Orthodoxie in ihrer Stadt wirklich verhindern würde. Er war sich nicht sicher. Zur Rettung der Orthodoxie in Balsezowo war vielleicht noch ein viel größeres Opfer notwendig. Dieser Gedanke ließ sich nicht vertreiben, Diakon Miťka konnte sich nicht helfen.

Und obwohl Vater Ferapont ein Arschloch war, das seinesgleichen suchte, hatte der Diakon ihn auf seine Art gern. Als Miťka nun länger bei der Leiche stand, überwältigte ihn ein immer größer werdendes Bedauern, dass er seine Hände mit dem Blut eines Menschen beschmutzt hatte. Hatte er das Recht gehabt, ihn umzubringen – selbst solch ein Rindvieh wie Vater Ferapont, und sei es zum Erhalt des Glaubens? Er ging in die Kirche und betete vor der Ikonostase, doch das Bedauern und die Schuld wurde er nicht los. So kletterte Miťka auf den Turm und blickte aus dem Fenster. Er ergötzte sich am Blick auf das Flüsschen. Er ergötzte sich an der Aussicht über die Dächer von Balsezowo und über den Birkenhain und dann hängte er sich an der großen Glocke auf, die nun mit doppeltem, unregelmäßigem Geläut in Balsezowo die Wiedergeburt der Orthodoxie in dieser Stadt verkündete.

 

© Übersetzung aus dem Slowakischen: Andrea Reynolds, 2023

Kein Teil dieses Auszuges darf in keiner Form und auf keine Weise weder reproduziert noch verbreitet werden.

 

 

[1] Ich muss hier wohl nicht anmerken, dass sich der Autor alle kirchlichen Praktiken und Würdenträger aus den Fingern gesaugt hat.

[2] Nichts dieser Art existiert. Der Autor hat sich die Zutaten ausgedacht. Er ist so dumm und faul, dass er sich hier nicht einmal die Mühe machte, ein gängiges Rezept für irgendein einfältiges russisches Nationalgericht zu googeln.